Begegnungen sind alltäglich. Man kann sich in ihnen verlieren. Aber wie funktioniert der Prozess Begegnung? Was wirkt im Moment des Austausches in Bezug auf den gestalterischen Prozess?

Ich gehe an dieser Stelle das Risiko ein, pathetisch zu wirken und beschreibe zwei persönliche Wahrnehmungsmuster: Wenn ich etwas Schönem begegne, zum Beispiel einer zartgrünen Flechte auf einem verwitterten Stein, dann empfinde ich Ruhe und eine Art Aufgehobenheit. Ich habe das Bedürfnis, dieses Gefühl der vertieften Harmonie in meiner Arbeit sichtbar zu machen. Und: Immer und überall nehme ich wahr. Es steht mir eine Flut von Möglichkeiten offen. Weder kann ich alle Wahrnehmungen bewältigen, noch alle Optionen verarbeiten. Ich muss auswählen. Das bedeutet immer auch: schmerzhaftes Weglassen.

In meiner Arbeit erforsche ich die visuelle Wahrnehmung in Begegnungen. Mein persönliches Interesse gilt dabei den subjektiv empfundenen, intuitiven, „ergreifenden Begegnungen“. In meiner künstlerischen Auseinandersetzung jedoch bewege ich mich später in Spannungsfeldern, Wechselwirkungen und Verflechtungen.

Wie wirken die Spannungsverhältnisse zwischen Natur und Kultur?

Es geht mir hier um Begegnungen, die sich zwischen natürlicher Entwicklung und artifiziellen Realitäten bewegen. Zur Veranschaulichung wende ich mich an eine laufende Arbeit aus meiner künstlerischen Praxis: Zwischen 2009 und 2015 ist eine Fotodokumentation entstanden. Während meinen täglichen Streifzügen durch den Wald bin ich immer wieder auf neonfarbige Sprayereien an den Bäumen gestossen. Es sind dies brachiale Zeichen der Waldpflege. Dieser Abhängigkeit, aus der sich Spannungen ergeben, möchte ich nachgehen. Und auf diese Verflechtungen, aus denen sich Neues ergibt, beziehe ich mich.

Wo liegt die Essenz?
Zum Kern der Sache vorzudringen ist für mich essentiell. Zur Anschauung zitiere ich hier gerne Hans Josephson: „Wenn ich ein Modell gesehen habe, das schlank und schmal war, sehr schön, habe ich das unwiderstehliche Bedürfnis gehabt, das so weit zu reduzieren oder zu verändern, dass davon nur noch der Kern der Sache übrig geblieben ist: Die Leute sagen dann einfach so, das sei eine Stele. In Wirklichkeit habe ich nicht eine Stele machen wollen sondern ich habe einfach bis zum Kern der Sache vordringen wollen (Quelle: Zitat aus dem Buch „Hans Josephson“ von Gerhard Mack).Diesen Kern, diese Essenz, diese Konzentration, diese in sich gekehrte Arbeit, diese Reduktion setze ich in einem nächsten Diskurs wiederum in einen grösseren Kontext.

Welche neue Perspektive ermöglicht welche neuen Ansätze?
Mein Arbeitsvorhaben zielt auf einen Perspektivenwechsel in Bezug auf die Raumverhältnisse. Gerne möchte ich alternative Räume bespielen. Ebenfalls beabsichtige ich ein spezifisches Projekt im Aussenraum weiterzuentwickeln und zur Umsetzung zu bringen (siehe Portfolio, „Hörst Du das Gras wachsen?“). Mich fasziniert dieses Vorhaben „Expansion“, welches im Kontrast zum vorgängig Beschriebenen Vorhaben „Reduktion“ steht.

Auf welchen Stuhl setze ich mich?
Stühle sind eine meiner bevorzugten Wahrnehmungsobjekte. Oder besser ausgedrückt: Ich treffe oft auf Situationen mit Stühlen. Sie offenbaren sich für mich wie inszenierte Szenen auf den unterschiedlichsten Bühnen. In südlichen Städten trifft man sie oft im Aussenraum an. Merkmale einer lebendigen Kultur des Zusammenlebens. In den letzten zehn Jahren ist eine Fülle von Fotografien und Zeichnungen entstanden mit Stühlen – menschenleer. Diesen Wahrnehmungen, die ich in gesellschaftlichen Zusammenhängen sehe, möchte ich nachgehen.
Es ist naheliegend, das Objekt „Stuhl“ mit Inhalten wie „Position beziehen“ zu assoziieren. Dies wiederum führt mich zu Fragen in Bezug auf meine Anschauungen, die ich gestalterisch entwickeln und nach aussen tragen möchte.

Wie sieht das Ganze aus?
In dieser Frage stelle ich meine Arbeit in einen ganzheitlichen Zusammenhang. Aus dem beträchtlichen Fundus meiner Zeichnungen, Skizzen, Texte sowie das Konvolut meiner gesammelten Objekte fasse ich meine Arbeit in bestimmten Zeitabschnitten zu Werkgruppen zusammen. Es entsteht ein Gesamtkunstwerk aus dem Prozess an sich.

Da ich mich im Jahr 2007 entschlossen habe ein offenes Atelier in einem ehemaligen Ladenlokal zu beziehen, befinde ich mich in einem steten gestalterischen Dialog mit einem Publikum. Durch diese Dialogform habe ich wertvolle Erfahrung in Bezug auf Austausch- und Wahrnehmungsabläufe gewonnen. Das prozesshafte Arbeiten hat mir aufgezeigt, auf welchen Arbeitsgebieten, inhaltlich und formal, ich mich heute vorzugsweise bewege. Ich habe Erkenntnisse in Bezug auf neue Arbeitstechniken entwickelt.

Meine Auseinandersetzung findet mehrheitlich autodidaktisch und ausserhalb des konventionellen Kunstbetriebes statt. Die Begegnungen, die im Umfeld des offenen Kunstraums stattfinden sind nach wie vor wertvoll und bereichernd. Jedoch sind sie auch durch Zufälligkeit geprägt. Ich bin daran interessiert meine Begegnungen vertieft zu erforschen und die Erkenntnisse zu untermauern. In einem gezielten Dialog mit dem Aussen suche ich Anstösse für eine fundierte Reflexion. Im Rahmen eines Studiums der Philosophie an der Universität Zürich möchte ich mein Verständnis von (künstlerischen) Forschungsprozessen vertiefen, neue Erkenntnisse gewinnen und vernachlässigte Perspektiven meiner Umfeld- und Umweltwahrnehmung erkunden…

Nadja Ullmann / 2016