Horizontale Linien ziehen. Jeden Tag zur gleichen Zeit. Gleiche Länge, gleicher Abstand, gleicher Stift. Und das seit über sieben Jahren. Nadja Ullmann zeichnet täglich eine oder mehrere Linien auf Papier. Geradlinig? Langweilig? Keineswegs, jede Linie ist ein bisschen anders, je nach Seelenzustand. Über 2500 Tage, unzählige Linien die sich zu einer langen, lebhaften und bewegenden Geschichte verbinden. Einzelne Tage, auf eine oder wenige Linien reduziert, werden erst spannend, wenn sie in der Beziehung zum Ganzen gestellt werden. Oder: „Um das Ganze verstehen zu können, muss man die Teile verstehen, aber man kann die Teile nur verstehen, wenn man einen gewissen Begriff vom Ganzen hat“, wie der amerikanische Philosophie Professor David Couzens Hoy einmal gesagt hat.

Daher interessieren die Künstlerin Nadja Ullmann Synergien. Zum Beispiel in ihrem letzten Kunstprojekt, das sie mit einer Tänzerin geschaffen hat. Ullmann hat die Tänzerin bei ihrer Arbeit fotografiert und die Abbildungen als Vorlage für ihre Zeichnungen benutzt. Immer und immer wieder hat sie die Tänzerin gezeichnet. Mit der Zeit gelang es ihr, zu abstrahieren und schliesslich den Tanz auf wenige Linien zu reduzieren. Einige der Zeichnungen verbindet sie wiederum mit Fotografien der Tänzerin, was die Gegensätze der reduzierten Zeichnungen und die Üppigkeit der Fotografie deutlich macht und gleichzeitig aufzulösen scheint.

Die Künstlerin versteht es verschiedene Techniken und Materialen zu verbinden. In ihrem Atelier im Zürcher Kreis 5 findet man unter anderem ausgeschwemmte Holzstücke, von der Sonne ausgebleichter Plastik, oder zerrissene Seile. Manchmal bleiben diese Materialen monatelang liegen, bis Ullmann sie wieder neu entdeckt und sie in ihre Arbeit einbezieht. Sie nimmt zum Beispiel ein Stück Harz, das sie mit mehreren Schichten Acryl bemalt und mit Kugelschreiber beschreibt und es schliesslich nach etlicher Überarbeitung auf eine feine Bleistift-Zeichnung klebt. Es ergibt sich ein vielschichtiges Werk, wobei der transparente Harz einen immer wieder Neues entdecken lässt. Die filigranen Kritzeleien im Hintergrund erscheinen in dieser Kombination wie feine Nähte, die den klobigen Harzklumpen festhalten. Ullmann hat die Gabe Unvollkommenes stehen zu lassen und es in neue Arbeiten zu integrieren. Details sind ihr genauso wichtig wie die Gesamtwirkung. Daher ist auch das Hängen ihrer Arbeiten in Form von Gruppen, Triptychon oder Einzelbildern Teil des Arbeitsprozesses.

Der Prozess des Zusammenwirkens zwischen dem Detail und dem Ganzen verfolgt Nadja Ullmann nicht nur in ihren Arbeiten, sondern auch in der Wahl ihres Ateliers. Nadja Ullmann’s Künstleratelier „atelieroffen“ ist zugleich Arbeitsraum, Galerie und Laden. Das ehemalige Ladenlokal ist ein unabhängiger Kunstraum, der Passanten dazu einlädt, einzutreten, zu verweilen, sich mit der Künstlerin zu unterhalten oder sich ganz einfach inspirieren zu lassen.

Manchmal jedoch verriegelt die Künstlerin die Türen ihres „atelieroffen“, um ungestört arbeiten zu können. Raum und Zeit scheinen sich zuweilen vollständig aufzulösen. Dank der Fähigkeit der Künstlerin innezuhalten und den Moment wahrzunehmen, entsteht ein beachtliches Kraftfeld. Ihre Umsetzung benötigt wiederum Distanz, Reflexion, was sich schliesslich in einer Schichtung von Diskurs und Handeln resultiert. Horizontale Linien unterstützten sie dabei.

NU/sb, 2009

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